Graduierungen im Ving Tsun

Geschrieben von Philipp Bayer

Eine Graduierung ist genau betrachtet nichts anderes als eine Benotung. Bereits in der Schule ärgern sich alle über die Ungerechtigkeit dieser Form von Einschätzung, bietet sie doch nichts anderes als eine Momentaufnahme in einem speziellen Bereich. Trotzdem fragen viele bei ihrem ersten Kontakt mit dem traditionellen Ving Tsun, ob es hier auch so etwas wie Gürtel oder ähnliche Markierungen für das jeweilige Können gibt. Offensichtlich strebt die Masse nach Schubladisieren. Einige Vertreter des Systems betrachten es als notwendig, solche Einstufungen, mit welcher Kennzeichnung auch immer, ihren Schülern als Etappenziele vorzugaukeln. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass solche Graduierungen lediglich zu sozialem Unfrieden führen. Schnell werden Fragen laut, warum der eine einen höheren Rang hat als der andere. Antworten auf diese Fragen können in der Regel nur willkürlich sein.

 

Vorgenannte Vertreter fuhren an, dass sie solche Einteilungen vornehmen, um den Ausbildungsgrad ihrer Schüler sofort zu erkennen. Um diese Vereinheitlichung zu realisieren, müssen alle Schuler die gleichen Programme und Ausbildungsgänge in der gleichen Reihenfolge durchlaufen. Problematisch, gar an Schwachsinn grenzend, ist dabei, dass nicht jeder Schüler, aufgrund der Individualität des einzelnen, den gleichen Werdegang nehmen muss, um zu seinem Ving Tsun zu finden und ein guter Kämpfer zu werden.

 

Auf den Punkt gebracht dienen solche Graduierungen lediglich dazu, die Faulheit des Lehrers zu unterstützen. Er braucht sich nicht mehr mit seinen Schülern zu befassen und kann eine große Zahl an Teilnehmern abfertigen. Überdies ist es auch so, dass solche Graduierungen nicht kostenlos sind. Nebst der Möglichkeit von mehr Schülern Beitrage zu erhalten, Liefern solche Prüfungen eine weitere Einnahmequelle. Ving Tsun bietet keine Patentlosungen, es gibt keine starren Vorschriften, dass in Situation XY nach Schema YZ vorgegangen werden muss. Es handelt sich um ein System, um eine Ideensammlung und nicht um ein umfangreiches Ablaufschema. Ving Tsun ist so individuell wie eine Handschrift und bietet dem einzelnen die Möglichkeit, seine persönlichen Stärken zu fördern. Vergleiche zwischen den einzelnen Schülern werden dadurch fast gänzlich unmöglich. Genau genommen müsste für jede Person ein eigenes Graduierungssystem entwickelt werden, in dessen Rahmen sich diese profilieren müssten.

 

Weiter spricht auch die Tatsache, dass Ving Tsun Gefühl und Intuition des Kämpfers miteinbezieht, klar gegen eine Benotung. Sind dies doch Bereiche, welche zu den menschlichen Qualitäten des einzelnen zählen, und wer will schon hingehen, sich über alle erheben und darüber richten?

 

Ziel eines guten Lehrers sollte sein, dass er seine Schuler mit den ganzen Starken und Schwachen kennt. Natürlich erfordert es Zeit und auch ein gewisses Interesse an den Menschen, die er ausbildet. Auch werden dem Ausbildenden psychologische Fähigkeiten in Trainingsgestaltung und -aufbau abverlangt. Nimmt er diese Aufgaben ernst, so kann er die jeweilige Ausbildung optimieren, direkt auf seine Schüler zuschneiden und diese somit weiterbringen.

 

Wichtig ist auch, dass ein persönlicher Kontakt zwischen den Partnern (Lehrer-> Schüler, Schüler-> Lehrer) vorhanden ist, da das Training Vertrauen und gegenseitige Akzeptanz voraussetzt. Sind diese Grundlagen, also das Wegkommen von Kastendenken und die zwischenmenschlichen Beziehungen, erst geschaffen, macht sich eine konstruktive Trainingsatmosphäre breit.

 

Eine Unterteilung zwischen Anfängern und Fortgeschrittenen ist hinfällig, jeder lernt von jedem. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Ving Tsun großen Wert auf Präzision legt. Diese kann aber nicht über Bücher, Videos oder einen Lehrer, der sich nicht mit den Schülern befasst, gelernt werden. Seit Entstehung wurde das System, sicherlich nicht grundlos, vom Lehrer an den Schüler weitergegeben. Diese Tradition sollte auch weiterhin berücksichtigt werden und Maschinerien, in denen dieses ausgeklügelte System vermittelt werden soll, vermieden werden.

 

Das Problem der Graduierung stellt sich aber nicht nur bei den Schülern, sondern auch bei den Lehrern. Als Hintergrundinformation sollte vorab gesagt werden, dass Yip Man heute als der letzte Großmeister (genaue Übersetzung: der letzte Übermittler) bezeichnet wird. Sprach man ihn zu seinen Lebzeiten allerdings direkt so an, wurde er sehr unangenehm. Er mochte dieses Bild von sich nicht, er sah sich als Mensch und nicht als Gott.

 

In der Ving Tsun-Szene werden heute Meister und gar Großmeister Titel verliehen, dass einem, denkt man an die Bescheidenheit eines großen Mannes wie Yip Man, das Grauen kommt.

 

Diese Titel werden Chinesisch mit Sifu bezeichnet, und so wird klar, dass die Menschen, welche diese Benennungen willkürlich verwenden, jegliches Verständnis entbehren.

 

Sifu ist kein verleih barer Titel, meint es doch nichts anderes als Vater und in diesem Zusammenhang auch Lehrer. Nennt ein Schüler seinen Lehrer also richtigerweise Sifu, darf davon ausgegangen werden, dass die beiden ein enges gegenseitiges Vertrauensverhältnis verbindet.

 

Ein Sifu bildet seinen Schüler nicht nur im Ving Tsun aus, sondern gibt ihm eine Ausbildung für sein Leben mit. Bei alledem sollte aber nicht vergessen werden, dass wir uns in Europa befinden und sich unsere Mentalität von der chinesischen unterscheidet.

 

Eine Tatsache, welche die Sifu -Problematik in Frage stellt. Soll ein Sifu-Verhältnis nur dazu dienen, ein Abhängigkeitsverhältnis zu schaffen, damit kein Lehrerwechsel, wie dies in anderen Sportarten immer wieder geschieht, mehr möglich ist? Will sich ein Lehrer durch den Ausspruch „Einmal Sifu -immer Sifu“ ungerechtfertigter Weise unzulässige Vorteile schaffen, gilt dieser als äußerst fragwürdig.

 

Philipp Bayer